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Ärztin in Afrika - Interview mit Dr. Denise Lundershausen vom RC Erfurt-Gloriosa

Der Deutsche Berufsverband für HNO-Ärzte unterstützt, fördert und begleitet seit 2009 ein Weiterbildungsprojekt in Ruanda. Mit Prof. Dr. Stefan Dazert, der zum RC Bochum-Rechen gehört, wurde von der Ruhr-Universität Bochum ein Master of Medicine-Programm für HNO-Ärzte aufgebaut. Das wurde vom Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte und der University of Rwanda vertragen. Seit 2010 fahren rund dreimal im Jahr niedergelassene und angestellte HNO-Ärzte aus Deutschland nach Ruanda. Ziel ist es, in Ruanda HNO-Ärzte weiterzubilden, um die Versorgung der Menschen vor Ort zu verbessern. Denn vor dem Start des Projektes arbeiteten nur fünf HNO-Ärzte in Ruanda, die zudem noch ausnahmslos in Nachbarländern weitergebildet worden waren. Bis 2009 stand für zwei Millionen Einwohner lediglich ein HNO-Facharzt zur Verfügung.

Frau Dr. Lundershausen, Sie waren als HNO-Ärztin mehrfach in Afrika und wollen wieder hin?

Der Gedanke, mich an der Weiterbildung der Kollegen in Ruanda zu beteiligen, hatte mich lange Zeit beschäftigt. Im Ergebnis reiste ich zwischen 2014 und 2018 mit Unterstützung des Rotary-Clubs Bochum-Rechen dreimal in das ostafrikanische Land. Jetzt, nach Corona, plane ich für das Jahr 2023 erneut nach Afrika zu reisen. Es war der August vor vier Jahren als ich das letzte Mal in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, diesmal mit meinen Kollegen vom Rotary Club Straubing, PD Dr. Rainer Keerl, eintraf. Mit ihm habe ich dann zehn Tage gemeinsam vor Ort gearbeitet.
Das waren wieder zehn Tage in einem Land, das rasant voranschreitet, in dem Gleichberechtigung gewollt ist, das keine Plastiktüten verwendet und Versöhnung fast 30 Jahre nach dem Genozid der Hutu an den Tutsi mit fast einer Million Toten staatlich verordnet wird.

Auf welche medizinischen Herausforderungen treffen Sie in Ruanda?

Die demografische Entwicklung und die medizinische Versorgung des Landes sind eine besondere Herausforderung. Die HNO-Klinik am CHUK in Kigali entspricht einer Universitätsklinik in Deutschland. Jedoch stehen ihr nur 16 Betten in Vier-Bett-Zimmern zur Verfügung. An fünf Tagen in der Woche ist Ambulanzbetrieb. Es gibt eine 24-Stunden-Notfallversorgung. Außerdem besteht Zugriff auf ein CT/MRT - allerdings mit Wartezeiten bis zu mehreren Wochen. An drei Wochentagen können OP-Tische im „Operationstheater“ genutzt werden. Die Möglichkeit einer Bestrahlung oder Chemotherapie bei Krebspatienten besteht nicht. Neue Therapiemethoden können sich die Patientinnen und Patienten nicht leisten.
Der auch in Afrika vorherrschende demographische Wandel und der Einzug der Wohlstandsgesellschaft bringt entsprechend für das Land ziemlich neue Krankheitsbilder wie Tinnitus, Globusgefühl und Allergien mit sich. Das macht die Arbeit unter den oben genannten Bedingungen schwerer. 
Demzufolge durfte ich in Ruanda auf einem Gebiet tätig sein, dass ich mein „zu Hause“ nenne – die HNO-Heilkunde. So habe ich gemeinsam mit den Kollegen in Seminaren die genannten Krankheitsbilder vorgestellt. Dabei haben wir mit den Ärzten vor Ort das diagnostische und therapeutische Vorgehen diskutiert. Auf diesem Weg werden seit 2009 die wachsende Zahl an Fachärzten klinisch und operativ angeleitet.

Was sehen Sie kritisch?

Den Kollegen stehen weitgehend alle Standardmethoden zur Untersuchung in der HNO-Heilkunde zur Verfügung. Das war möglich durch die Unterstützung von „Ein Herz für Kinder“, einiger im HNO-Bereich tätigen Firmen, vieler HNO-Kolleginnen und Kollegen und Rotary International. 
Es mangelt jedoch mitunter an der Fähigkeit, mit den Geräten umzugehen. So wird ein 2016 von uns gespendetes Radiofrequenzgerät nur spärlich genutzt. Defekte Geräte werden häufig nicht repariert. 
Die Möglichkeit zur sonographischen Diagnostik ist dringend nötig. Die Beschaffung eines solchen Gerätes setzt eine größere Spendenaktion voraus. Es gab bereits private Spenden an Rotary International bzw. den Rotary-Club in Bochum, um das Ziel irgendwann zu erreichen.
An mancher Stelle wünsche ich mir von den Kolleginnen und Kollegen vor Ort mehr Eigeninitiative und weniger Desorganisation.
Wir haben versucht, hierauf im Arbeitsalltag Einfluss zu nehmen.
Nachfolgende Teams sollten die Nachhaltigkeit des erreichten Erfolges dieses Masters-of-Medicine-Programmes und die damit verbundenen Verbesserungen der technischen Möglichkeiten immer wieder anmahnen.

Gibt es andere Krankheitsverläufe als in Europa?

Im Alltag der HNO-ärztlichen ambulanten und operativen Versorgung sahen wir Erkrankungen, die dem Spektrum in Europa ähneln, haben aber einen viel höheren Anteil infektiöser Krankheiten festgestellt. Krankheitsverläufe und Einzelschicksale unterscheiden sich erheblich und haben uns oft betroffen gemacht. Das Leid, der Schmerz, die teilweise Unbedarftheit, die örtlichen Gegebenheiten und auch Gleichgültigkeit werden in afrikanischen Ländern anders betrachtet als in Europa.

Wie oft sprechen wir in Deutschland über mangelnde finanzielle Möglichkeiten und die bessere Honorierung unserer ärztlichen Leistungen. 
Ein HNO-Kollege in Ruanda verdient rund 600 EUR im Monat. 
Eine Krankenversicherung kostet pro Jahr ca. drei Euro pro Familienmitglied, egal welchen Alters, zusätzlich muss man für jeden Arztbesuch noch einmal zwei Euro auf den Tisch legen und die Medikamente zahlt jeder Patient selbst. Der Kauf eines Nasensprays ist für Patienten ein kaum realisierbarer Luxus.
Diese Kosten sind im Vergleich zum Einkommen der Menschen ein Vermögen. Der Arztbesuch wird zum finanziellen Risiko. Dazu wird der weite Weg durch das hügelige Gelände des Landes selten in Kauf genommen.

Wo wird ein Fortschritt sichtbar?

Trotzdem haben wir fast überall zufriedene und fröhliche Menschen getroffen. Gerade diese Einstellung, so scheint es, ist der Wachstumsmotor des Landes. Das ist überall zu bestaunen.
Zum Beispiel entleert die Müllabfuhr die Mülltonnen Kigalis in nagelneuen Fahrzeugen. Die Straßen sind sauber, sehr gut asphaltiert, es grünt allerorts, man findet keine Plastiktüten auf den Straßen und keine Zigarettenkippen. Entgegen dem momentanen Trend in den Industrieländern wird für Ruanda für 2022 ein Wirtschaftswachstum von acht Prozent vorhergesagt (EIU). Das zieht Investoren an.
Die Regierung ist, trotz ihres autoritären Systems, bemüht um die Versöhnung von Tätern und Opfern in Wirtschaft und Politik. Ziel ist es, fast 30 Jahre nach dem Genozid, das Land zu einem besseren Ort als das Ruanda von 1994 zu machen. Der jungen Generation gibt man Hoffnung und zeigt Perspektiven auf. So wird die HNO-Klinik von einem neuen, jungen Chefarzt geleitet. Er ist einer der ersten beiden Kollegen, die nach dem gemeinsamen Konzept des HNO-Berufsverbandes und der University of Rwanda weitergebildet wurden und der 2014 die Facharztprüfung ablegte.

Wie geht es jetzt nach Corona weiter?

Für uns war es bei jedem Besuch eine spannende und interessante Erfahrung und für die Kolleginnen und Kollegen hoffentlich eine lehrreiche Zeit, die Perspektiven schafft, nachhaltig wirkt und uns allen in Erinnerung bleibt. Von März 2020 an musste sich die ganze Welt auf das SARS-CoV-2-Virus einstellen. Unsere häufigeren Besuche in Ruanda waren auch von der Pandemie betroffen. Der Lockdown, keine Transfermöglichkeiten oder die Angst vor Infektion bremsten das Projekt aus.
Nur wenige Teams waren in dieser Zeit vor Ort.
Wir mussten uns ein neues Format überlegen – Webinare. Diese wurden von den Kolleginnen und Kollegen gern übernommen und in englischer Sprache gehalten. Außerdem lernten unsere ruandischen Kolleginnen und Kollegen, selbst die Weiterbildung zu organisieren. Junge Assistenzärzte wurden ohne unsere Anleitung zum Facharzt geführt. 
Nun ist es an uns, weitere neue Formate für die Zusammenarbeit zu entwickeln. Wir haben Ideen für Fortbildungen, Hands-on-Kursen, der Weitergabe neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und operativer Techniken in Kongressen, Seminaren und Workshops. Wir freuen uns darauf.

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